Depression als Lebenschance [antikvár]

Kapitel I Das Wesen der Depression oder: Die gesunde Reaktion Es gibt einen heftigen Wind, Mistral genannt, der über Südfrankreich weht: eine trockene, kühle Luftströmung, die eine plötzliche Zunahme der Fälle von Depression mit sich bringt. In Bayern weht zur Zeit der Schneeschmelze ein warmer Wind von den Alpen nordwärts: der Föhn. Wenn er über München hereinbricht, steigt für mehrere Tage die Selbstmordquote. Weihnachten ist für viele Menschen mit einer Stimmung verstärkter Traurigkeit und Einsamkeit verbunden. Ebenso ist der Frühling eine Jahreszeit, in der es oft zu Depressionen kommt. Häufig sind auch die - als Jahrestag-Reak-tionen bekannten - deprimierten Stimmungen, die immer um dieselbe Jahreszeit auftreten, in der man früher einmal besonders belastende Situationen durchzustehen hatte: «Genau in diesem Monat vor zwei Jahren starb mein Vater.» Oder: «Letztes Jahr um diese Zeit machte ich den schlimmsten Teil meiner Scheidung durch.» Dennoch ist die Depression nicht auf bestimmte Zeitpunkte und bestimmte Orte beschränkt. Sie ist vielmehr die Reaktion auf einen Streß. Die Depression ist eine Stimmung, die jedermann zu jeder Zeit befallen kann. Es ist anzunehmen, daß zumindest die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in den USA irgendwann einmal depressiv gewesen ist."' Es gibt sogar Schätzungen, nach denen in jedem gegebenen Augenblick annähernd acht Millionen Amerikaner * Ähnliche Zahlen berichten Untersudiungen aus allen anderen Industrieländern. (Anm. z. dt. Übers.)