Die Mädchenfamilie [antikvár]

Das Fräulein von der Bibliothek »Wir werden noch zu spät kommen!« jammerte Henny. »Die besten Bücher werden schon weg sein! Vielleicht hat sie vergessen, daß Freitag ist!« »Nein!« rief Charlotte. »So was vergißt sie nicht!« Das stimmte. Weder Sarah noch irgendeine ihrer Schwestern würde jemals vergessen, daß Freitag Bibliothekstag war. Damals, im Jahre 1912, gab es fast kein Kind in der Lower East Side* von New York, das ein Buch besaß. Ein Buch, das war ein unerhörter Luxus. Daß man sich aus der öffentlichen Bibliothek ein Buch ausborgen konnte, war wunderbar genug. Die Kinder gingen jeden Freitagnachmittag gleich nach der Schule hin, um sich neuen Lesestoff für das Wochenende zu holen. Sogar die vierjährige Gertie machte den wöchentlichen Ausflug mit, um sich Bilderbücher anzugucken. Doch wo blieb Sarah wirklich? Auch Mama war nun schon ein wenig besorgt. Zuspätkommen paßte nicht zu Sarah. Endlich hörte man Schritte auf der knarrenden Hintertreppe. Henny rannte zur Küchentür, riß sie auf und steckte den Kopf hinaus. »Da kommt sie!« schrie sie. »Es wird Zeit«, sagte Ella. Eine jammervolle kleine Gestalt mit tränenverschmiertem Gesicht betrat die Küche. »Mama!« piepste Gertie. »Die Sarah weint!« »Aber Sarah, was ist denn passiert?« Sarah antwortete nicht. Sie ging zu dem harten, braunen * Wohngebiet armer Leute in New York; in einem bestimmten Bezirk fast ausschließlich von Juden bewohnt