Ilona [antikvár]

ERSTER TEIL 1886 bis 1913 1 Weiße Weihnachten kündigte der Dezember an, in diesem Jahre des Herrn 1886. Unter tiefem Schnee lag das rote Zicgelgebäude der Eisenbahnstation von Kisnemet. Unter tiefem Schnee lag dahinter das ungarische Flachland. In der Stille war oft tagelang nichts als das hungrige Krächzen der Raben. Im Schlafzimmer, über dem Wartesaal erster und zweiter Klasse, lag die Frau seit acht Stunden in Wehen. Drei Kinder hatte sie in Schmerzen geboren; nun war das vierte unterwegs. Jedesmal war sie gewiß gewesen, sterben zu müssen. Jetzt war sie müde des Ringens mit dem Tod. Sie erwartete ihn. Der Mann saß am Fenster und blickte hinaus. Er hatte ihre Hand gehalten; dann hatte sie ihn fortgeschickt. Unten schlief die verschneite Station mit den ausgeschaufelten Schienen. Wie ein winziger roter Mond stand das Haltesignal des Semaphors am grauen Himmel. In einer Stunde und vierzehn Minuten würde sich das Rot in Grün verwandeln. Ob es da sein würde, das Kind, ehe der Schnellzug vorbeifuhr? Hier und da schallte Kinderlachen durch das Haus. Der Stationsvorsteher Mihály Horváth kannte die Stimmen seiner Kinder: das trällernde Lachen der vierjährigen Teréz, das grunzende Lachen des dreijährigen Lajos. Margit, noch nicht anderthalb, hatten die beiden Älteren von ihren Spielen wieder ausgeschlossen. Sollte er ihnen das Lachen verbieten? Die Frau stöhnte leise. Er wandte sich nach dem hohen, dunkelbraunen Bett um. Sein Blick fiel auf den Öldruck einer hellblauen Raffael-Madonna, die im ovalen Rahmen über dem Bett hing. Er wollte beten, aber der Herrgott gab ihm keine Worte, mit denen er beten konnte. Beten? Der Herrgott entschied immer anders. ». doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst.« Vielleicht gab es kein anderes Gebet. Der Stationsvorsteher war erst siebenundzwanzig Jahre alt, aber er konnte sich an viele ungehörte Gebete erinnern. Als er ein Kind war, da hatte er dem Herrgott manches versprochen und Ihm manchmal gedroht. Aber der Herrgott kümmerte sich um keine Versprechungen und keine Drohungen.