Leben will ich [antikvár]

I Das Alter Ich werde nie alt sein. Seit ich das weiß, fühle ich mich sicher. »Man muß wohl oder übel ertragen, was man nicht verhindern kann«, pflegte meine Schwiegermutter mit der Bescheidenheit der armen Leute jedesmal zu sagen, wenn ein neues Unglück auf sie eingestürzt war, ob es sich nun um den Verlust eines Kindes handelte - Gott hat es so gewollt -, um den Verlust ihrer Zähne - weil ein Dorfvandale, der sich Zahnarzt nannte, es für richtig gehalten hatte, sie allesamt zu ziehen -, um das jähe Dahin-schmelzen ihres mageren Kapitals bei einer sogenannten Spar-Kasse oder schließlich darum, daß bei ihr der vermeintlich schicksalhafte Verfall des Körpers viel zu früh einsetzte. Wissen die armen Leute eigentlich, daß den Reichen deshalb die Kinder nicht einfach wegsterben, weil sie medizinisch besser versorgt werden, daß die Wohlhabenden deshalb nie das Stadium des Klappergebisses erreichen, weil sie es mit Hilfe ihres Geldes zu verhindern wissen, und daß sie sich hüten, ihr Vermögen der Sparkasse anzuvertrauen? Glücklicherweise hatte ihr eine seltene Unsinnlichkeit, gepaart mit einer Art Hingezogenheit zum Unglück, die »Maman« christliche Schicksalergebung nannte, erlaubt, dieses Jammertal mit der kärglichen Befriedigung stets erfüllter Pflicht zu durchschreiten. Aber jedesmal, wenn sie den Wahlspruch der vom Leben Besiegten von sich gab, bestärkte sie mich noch ein bißchen mehr in meinem festen Vorsatz: mich umzubringen an dem Tag, von dem an ich nicht mehr in der Lage sein würde, ein Minimum an Lebensbedürfnissen zu befriedigen - mein Minimum, das sich nicht unbedingt mit dem der andern deckt und über das ich allein Richter sein will! Meine Mutter jedoch wehrte sich gegen jegliche Abhängigkeit, jegliche Demütigung, jegliche Niederlage. Um nicht Zeuge ih- 9