Piero della Francesca [antikvár]

Ein Apotheker namens Baccio di Magio aus Arezzo hinterlieB in seinem am 6. August 1416 ausgefertigten Testament einen ansehnlichen Betrag mit der Verfügung, seine Neffen möchten die Chorkapelle der Kirche San Francesco mit Fresken zieren lassen. Es waren bereits dreiBig Jahre vergangen, als der Sohn und die Neffen des Erblassers endlich den Florentiner Bicci di Lorenzo mit dieser Aufgabe betraut hatten. Dieser Meister, der gotische Familientraditionen der Maierei fortsetzte, gestaltete an der Schiffswand über dem Triumphbogen in seiner altertümlichen Manier das »Jüngste Gericht«, in der Bogenleibung die Kirchenváter und an der Wölbung des Chores die vier Evangelisten. Als er 1452 starb, waren die Seitenwánde noch leer. Deshalb wendeten sich die Auftraggeber an einen Maler, der damals bereits groBe Autoritát genoB: an Piero della Francesca, einen Bürger der benachbarten Kleinstadt Borgo San Sepolcro. Dank dieser guten Wahl der Familie Bacci kann Arezzo heute eine der gröBten Leistungen der Freskomalerei aus der Renaissance in Italien vorweisen. Vergleichbar bedeutungsvolle Zyklen schufen lediglich Giotto in der Arena-Kapelle von Padua, Masaccio in der Kirche Santa Maria del Carmine zu Florenz und Mantegna in der EremitaniKirche in Padua. Die Fresken Pieros gliedern die beiden Seitenwánde der Kapelle und die Ostwand mit dem Fenster in drei Zonen. Ihr Thema, die Legende vom Heiligen Kreuz, wird von Jacobus de Voragine - im 13. Jahrhundert Bischof von Genua - in seiner »Legenda aurea« erzáhlt, einer sowohl im Mittelalter als auch in der Renaissance beliebten Sammlung von Erzáhlungen aus dem Leben der Heiligen. In der berühmtesten Kirche der Franziskaner, in Santa Croce zu Florenz, hatte Agnolo Gaddi diese Legende bereits um 1380 gemalt, wáhrend Cenni di Francesco um 1410 die Franziskanerkirche in Volterra und Masolino 1424 die Kirche Santo Stefano zu Empoli mit Fresken zierten, die die Sage vom Kreuz Christi illustrierten. Die Geschichte lautet wie folgt: Der nahezu tausend Jahre alte Adam bittet seinen Sohn Set, ihm vom Engel des irdischen Paradieses das Öl der Barmherzigkeit zu bringen, das ihm die Gesundheit wiedergeben könnte. Zwar gelingt es Set nicht, dieses Öl zu beschaffen, aber er erhált einige Samen vom »Baum des Lebens«, die er dem toten Adam unter die Zunge schiebt. Aus den Samen wáchst zur Zeit des Königs Salomo ein Stamm mit máchtiger Krone empor. Salomo láBt den Baum fállen und aus dem Holz eine Brücke bauen. Als die Königin von Saba Kundé von der Weisheit Salomos erhált, macht sie sich auf den Weg, um mit ihm persönlich zusammenzutreffen. An der Brücke angekommen, erahnt sie infolge göttlicher Eingebung die künftige Heilsbestimmung des Baumes, kniet vor ihm nieder und betet ihn an. Als sie König Salomo die Prophezeiung berichtet, befiehlt dieser, den Stamm in den tiefsten Sumpf zu versenken. Die Voraussage aber sollte sich spáter bewahrheitén: Der Baum wurde ausgegraben, und Christus muBte daran den Tod erleiden. Nach Jahrhunderten schlieBlich erschien das Kreuz Kaiser Konstantin im Traum, und ein Engel verkündete ihm: »In diesem Zeichen wirst du siegen!« Das Symbol Christi verhalf dem Imperátor zu einem unblutigen Triumph über seinen Widersacher Maxentius. Daraufhin bat Konstantin seine Mutter Helena, das Heilige Kreuz ausfindig zu machen. In Jerusalem kannte nur ein einziger Mann namens Judas den Ort, wo sich das Heilige Holz befand, aber erst nachdem man ihn gemartert hatte, war er bereit, ihn zu nennen. Zusammen mit dem Kreuz Christi wurden auch die der beiden mit ihm hingerichteten Schácher ausgegraben. Das Wahre Kreuz wirkte Wunder: Es erweckte einen Jüngling vom Tode. Wiederum Jahrhunderte danach raubte Chosroe, der eroberungslüsterne König der Perser, die Reliquie und lieB sie in seinen Thron einbauen. Doch Heraclius besiegte ihn in einer schweren Schlacht, gewann das Kreuz zurück und trug es zum Zeichen seiner Demut barfuB nach Jerusalem. Man fragt sich heute, ob diese Legende in der Mitte des 15. Jahrhunderts über die allgemeine religiöse Aufforderung hinaus, das Kreuz zu verehren, einen zeitgemáBen Bezúg hatte: Wir wissen mit Bestimmtheit, daB es so war. 1453 gelangte Konstantinopel in die Hand der Türkén. Zur Zeit der Entstehung der Fresken unternahmen die Pápste Nikolaus V. und spáter Pius II. mehrere erfolglose Versuche, die westliche und die östliche Kirche miteinander zu versöhnen, um in einem gemeinsamen Kreuzzug den Kampf gegen die Osmanen, die ihre Machtspháre mehr und mehr ausdehnten, aufnehmen zu können. Bereits 1438 trat in Ferrara das Konzil zusammen, das über die Vereinigung der Kirchen beriet. Daran nahm die Abordnung von Byzanz, die sich aus hohen kirchlichen Würdentrágern und gelehrten Theologen zusammensetzte, unter der persönlichen Führung des Kaisers Johannes Palaiologos VIII. teil. Der namhafte Maler und Medailleur Pisanello fertigte 1438 eine Medaille mit dem Bildnis dieses Herrschers an. Ist es ein Zufall, daB Piero della Francesca Konstantin die Züge des byzantinischen Kaisers verlieh? In der Schlachtenszene von Arezzo erscheint - in einer der Medaille von Pisanello sehr áhnlichen Form - das charakteristische Profil des Palaiologos. Die Darstellung weist damit deutlich auf den Kampf des Christentums gegen die Ungláubigen hin, wáhrend der Hándedruck zwischen Salomo und der Königin von Saba die Idee der Annáherung der beiden Kirchen symbolisiert. So verschmilzt in einem Werk die mittelalterliche Legende mit einer aktuellen, zeitgemáBen Aussage. Die Bewunderung, die man den Fresken von Arezzo entgegenbringt, findet aber nach nunmehr fünf Jahrhunderten eine andere Erklárung. Auch wenn wir die fromme Legende vom heilspendenden Kreuz und ihre Bedeutung für die Zeitgenossen nicht kennten, zöge uns die fremdartige Welt dieses Meisterwerkes in ihren Bann: Vor unseren Augen